»2. Das Gesetz«

Die Entstehung des Erbgesundheitsgesetzes

Bereits lange vor dem Jahr 1933 wurde sowohl international als auch national über das Thema Sterilisation debattiert. In einigen US-Bundesstaaten existierten bereits vor dem Zweiten Weltkrieg Sterilisationsgesetze. Im späten Stadium der Republik in Deutschland wurde 1932 vom Preußischen Landesgesundheitsrat ein Gesetzesentwurf zur Sterilisation erarbeitet, der allerdings die Zustimmung der Betroffenen als Bedingung vorsah.

Nach Rücksprache mit dem Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik und einer kurzen Absprache mit dem Justizministerium wurde der Gesetzesentwurf von NS-Reichsinnenminister Wilhelm Frick und dem leitenden Ministerialbeamten Dr. med. Arthur Gütt bereits am 14. Juli 1933 dem Kabinett zur Verabschiedung vorgelegt. Der Reichstag und die Länder waren nicht in den Entscheidungsprozess involviert, da die Regierung aufgrund des „Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich“ von März 1933 ermächtigt worden war, eigenständig gesetzliche Maßnahmen zu ergreifen.

Die Kabinettssitzung am 14. Juli 1933 stellte nur noch eine geringe Hürde für das Gesetz dar. Vizekanzler von Papen, der der Zentrums-Partei angehörte, äußerte zwar Einwände und plädierte für eine mildere Version des Entwurfs, die nur freiwillige Sterilisation erlaubt. Er war sich jedoch bewusst, dass er von den anderen Kabinettsmitgliedern (Mitglieder der NSDAP, der DNVP oder parteilos) überstimmt werden würde. In Anbetracht dessen bat er darum, die Veröffentlichung des Gesetzes bis nach den Konkordatsverhandlungen mit der katholischen Kirche zu verschieben.

Hitler selbst reagierte darauf, indem er auf die drohende Gefahr für die Zukunft des Volkes hinwies, wenn „erbkrankes“ Leben in größerem Umfang fortpflanzt würde, während gleichzeitig gesunde Kinder ungeboren blieben. Der Kabinettsentwurf wurde angenommen. Papens Wunsch nach verzögerter Bekanntgabe wurde gewährt, und das Gesetz wurde schließlich am 25. Juli 1933 im Reichsgesetzblatt veröffentlicht.

Obwohl das Gesetz in seiner Struktur und einigen Formulierungen dem 1932er Entwurf des Preußischen Landesgesundheitsrats ähnelte, war der kritische Aspekt, dass § 12 die zwangsweise Sterilisation ermöglichte, wenn die Betroffenen sich nicht „freiwillig“ ihrem „Schicksal“ ergeben würden. Diese Androhung von direktem Zwang bildete das Kernstück dieses ungerechten Gesetzes.

Bereits im »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchs« (amtliche Abkürzung: GzVeN) ist die Auswahl der Opfer und die offizielle Rechtfertigung des Gesetzes äußerst deutlich formuliert:

Im Sinne des Gesetzes wurden als »erbkrank« diejenigen Personen bezeichnet, die an Krankheiten wie „Schizophrenie“, „angeborenem Schwachsinn“, „zirkulärem Irrsinn“ oder „schwerem Alkoholismus“ litten. Eine nachweisbare erbliche Veranlagung war keine Voraussetzung. Infolgedessen betrachteten die Gesundheitsämter und Erbgesundheitsgerichte beispielsweise die Tatsache, dass jemand auf einer Hilfsschule war, als ein entscheidendes Indiz für das Vorhandensein einer Erbkrankheit. In ständiger Rechtsprechung urteilte beispielsweise das Erbgesundheitsobergericht in Jena: „Hilfsschulbedürftigkeit spricht stets für das Bestehen eines angeborenen Schwachsinns“. Selbst der Gesetzeskommentar zum ErbGG (Gütt/Rüdin/Ruttke), der von führenden Beamten des Reichsministeriums des Innern, Dr. med. Gütt und Dr. jur. Ruttke, mitverfasst wurde, versuchte, Bedenken der beteiligten Ärzte und Juristen zu zerstreuen: „Bei zahlreichen asozialen und antisozialen, schwer erziehbaren, stark psychopathischen Debilen wird man die Unfruchtbarmachung unbedenklich für zulässig erklären können, selbst wenn sie in ihrer Intelligenzentwicklung allein nicht übermäßig zurückgeblieben sind.“

Reichsgesetzblatt vom 25. Juli 1933

Im Oktober 1939 ermächtigte Adolf Hitler mit einem auf den 1. September 1939, dem Tag des Kriegsbeginns, zurückdatierten Schreiben den Leiter der Kanzlei des Führers, Philipp Bouhler, und Hitlers Begleitarzt, Karl Brandt, als medizinische Ansprechpartner zur organisatorischen Durchführung der als »Euthanasie« bezeichneten Tötung von „lebensunwertem Leben“: „Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“

In der offiziellen Begründung des Gesetzes wird folgendermaßen argumentiert: „Der fortschreitende Verlust wertvoller Erbmasse muss eine schwere Entartung aller Kulturvölker zur Folge haben. Von weiten Kreisen wird heute die Forderung gestellt, durch Erlass eines Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses das biologisch minderwertige Erbgut auszuschalten. So soll die Unfruchtbarmachung eine allmähliche Reinigung des Volkskörpers und die Ausmerzung von krankhaften Erbanlagen bewirken.“

Das Merkblatt zum NS-Erbgesundheitsgesetz, in welchem Volksgenossen die Ziele des Gesetzes und der Ablauf des Verfahrens erläutert wurde, beginnt mit dem Zitat aus Adolf Hitlers  „Mein Kampf“:

„Wer körperlich nicht gesund und würdig ist, darf sein Leid nicht im Körper seines Kindes verewigen! Der Staat muss Sorge tragen, dass nur, wer gesund ist, Kinder zeugen darf. Umgekehrt aber muss es als verwerflich gelten, gesunde Kinder dem Staat vorzuenthalten.“

Mein Kampf – Band 1 – Seite 279 f., Sterilisation Unheilbarer

Den Volltext des Gesetzes mit Änderungen und Erlassen finden Sie hier: ERBGESUNDHEITSGESETZ

Ein Wegbereiter des Gesetzes: Die verhängnisvolle Publikation

Im Jahr 1920 veröffentlichten der Professor für Strafrecht Karl Binding (1840-1920) und der Freiburger Arzt und Psychiater Alfred Hoche (1865-1943) ihre Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“.

Bereits seit dem späten 19. Jahrhundert hatten Schriftsteller, Philosophen und Ärzte über Themen wie die Tötung auf Verlangen und den Umgang mit unheilbar Kranken debattiert. Nach dem Ersten Weltkrieg erreichte diese Diskussion ihren Höhepunkt. Die Schrift von Binding und Hoche wird heute als ein Wegbereiter für die späteren NS-„Euthanasie“-Programme angesehen. Obwohl Binding betonte, dass man „den lebenden Menschen als Souverän über sein Dasein und die Art des desselben betrachten“ müsse und dass die „volle Achtung des Lebenswillens aller, auch der kränksten und gequältesten und nutzlosesten Menschen“ eine Grundvoraussetzung für Überlegungen zur „Freigabe der Tötung Dritter“ sei, bereitete er bereits den Boden für die spätere Argumentation der Nationalsozialisten vor. Er stellte fest, dass wir „mit Schmerzen wahrnehmen, welch Maß von oft ganz nutzlos vergeudeter Arbeitskraft, Geduld, Vermögensaufwendung wir nur darauf verwenden, um lebensunwerte Leben“ zu erhalten. In Bezug auf die „unheilbar Blödsinnigen“ sah Binding keinen Grund, ihre Tötung nicht zu erlauben, weder aus rechtlicher, sozialer, ethischer noch religiöser Sicht.

Der Mediziner Hoche legte in seinen „Ärztlichen Bemerkungen“ dar, welch „ungeheure Kapital“ der für diese „Ballastexistenzen notwendige Aufwand“ verursache. Seine Argumentation, dass der „staatliche Organismus“ wie ein „menschlicher Organismus“ betrachtet werden müsse, der „im Interesse der Wohlfahrt des Ganzen auch einzelne wertlos gewordene oder schädliche Teile oder Teilchen preisgibt und abstößt“, spiegelt das von den Nationalsozialisten propagierte Ideal der „Volksgemeinschaft“ wider.

In der Weimarer Zeit stieß die Schrift von Binding und Hoche auf teils heftigen Widerspruch, und verantwortungsbewusste Mediziner warnten vor einem gefährlichen Präzedenzfall. Dennoch griffen die Nationalsozialisten insbesondere die Überlegungen hinsichtlich des ökonomischen Nutzens von psychisch Kranken auf und verknüpften sie mit ihren rassenhygienischen Vorstellungen.

Quelle: Karl Binding/Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920

Umgang mit dem Gesetz nach 1945: Eine Zeit des Widerstands und der Anpassung

Nach der deutschen Kapitulation im Mai 1945 blieb das GzVeN wie viele andere während der Zeit des Nationalsozialismus erlassene Gesetze vorerst bestehen und wurde nicht durch die Kontrollratsgesetze aufgehoben. Innerhalb des Kontrollratsdirektorats gab es Diskussionen über die Zukunft des Gesetzes. Charles H. Fahy, der Chef der Rechtsabteilung der US-amerikanischen Militärregierung, sprach sich für eine vorläufige Suspendierung des Gesetzes aus, bis eine mögliche erneute Anwendung im öffentlichen Interesse liege. Einige deutsche Länder ergriffen jedoch eigene Maßnahmen:

  • Thüringen hob das Gesetz am 20. August 1945 auf.
  • Bayern folgte am 20. November 1945 mit der Aufhebung des Gesetzes.
  • In Hessen wurde am 16. Mai 1946 eine Verordnung erlassen, die besagte, dass das Gesetz vorläufig nicht mehr anzuwenden sei.
  • Württemberg-Baden setzte das Gesetz durch ein Gesetz aus, das am 24. Juli 1946 erlassen wurde.
  • Die sowjetische Militärregierung ordnete in ihrer Zone am 8. Januar 1946 die Aufhebung des Gesetzes an. Die britische Militärregierung erließ am 28. Juli 1947 eine Verordnung zur Wiederaufnahme von Erbgesundheitsverfahren. Da es jedoch keine Erbgesundheitsgerichte mehr gab, wurde das Gesetz praktisch nicht mehr angewendet.

Nach 1949 blieb das Gesetz in Teilen in der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland in Kraft, während es in der Deutschen Demokratischen Republik weiterhin aufgehoben blieb. Bestimmungen des GzVeN, die dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland widersprachen (insbesondere Artikel 123 Abs. 1 GG), verloren mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes ihre Gültigkeit.

In den frühen 1950er Jahren gab es Forderungen aus Teilen der Ärzteschaft und Justiz in der Bundesrepublik Deutschland, eugenische Zwangssterilisationen neu einzuführen und zu regeln. Diese Bemühungen stießen jedoch auf starken Widerstand und wurden nicht durchgesetzt. Die Debatte über die ethischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Aspekte dieser Thematik begleitete die deutsche Gesellschaft und trug zur Sensibilisierung für die Notwendigkeit des Schutzes individueller Rechte und Würde bei.

Die Bundesregierung erklärte am 7. Februar 1957 vor dem Deutschen Bundestag:

„Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 ist kein typisch nationalsozialistisches Gesetz, denn auch in demokratisch regierten Ländern – z. B. Schweden, Dänemark, Finnland und in einigen Staaten der USA – bestehen ähnliche Gesetze; das Bundesentschädigungsgesetz gewährt aber grundsätzlich Entschädigungsleistungen nur an Verfolgte des NS-Regimes und in wenigen Ausnahmefällen an Geschädigte, die durch besonders schwere Verstöße gegen rechtsstaatliche Grundsätze Schäden erlitten haben.“

Mit dieser Einschätzung waren die Opfer des Gesetzes nicht berechtigt zum Erhalt von Entschädigungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz.

Noch gültige Vorschriften des GzVeN über Maßnahmen mit Einwilligung des Betroffenen wurden durch Artikel 8 Nr. 1 des Gesetzes vom 18. Juni 1974 (BGBl. I S. 1297) aufgehoben. 1986 erklärte das Amtsgericht Kiel, dass das Erbgesundheitsgesetz dem Grundgesetz widerspricht.

Im Jahre 1988 ächtete der Bundestag die auf Grundlage des GzVeN durchgeführten Zwangssterilisierungen. Im Beschluss heißt es:

  1. „Der Deutsche Bundestag stellt fest, dass die in dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 vorgesehenen und auf der Grundlage dieses Gesetzes während der Zeit von 1933 bis 1945 durchgeführten Zwangssterilisierungen nationalsozialistisches Unrecht sind.“
  2. „Der Deutsche Bundestag ächtet die Maßnahmen, die ein Ausdruck der inhumanen nationalsozialistischen Auffassung vom ‚lebensunwerten Leben‘ sind.“
  3. „Den Opfern der Zwangssterilisierung und ihren Angehörigen bezeugt der Deutsche Bundestag Achtung und Mitgefühl.“

Die Aufarbeitung des Unrechts: Die lange Anerkennungsreise der Opfer des GzVeN

Am 25. August 1998 erfolgte ein bedeutender Schritt in der Aufarbeitung des nationalsozialistischen Unrechts: Der Bundestag verabschiedete das „Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege und von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte“. Damit wurde ein wichtiger Schritt unternommen, um die von den Erbgesundheitsgerichten auf Grundlage des GzVeN erlassenen rechtskräftigen Beschlüsse zur Sterilisierung aufzuheben.

Im Jahr 2007 erklärte der Deutsche Bundestag das GzVeN in seiner Ausgestaltung und Anwendung offiziell als „nationalsozialistisches Unrecht“. Diese Anerkennung war ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur Aufarbeitung der Geschichte und zur Achtung der Menschenrechte. Trotz dieser Anerkennung blieben die Opfer des GzVeN jedoch bis heute nicht offiziell als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt. Dadurch wurden ihnen die rechtlichen Ansprüche auf Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz verwehrt.

Die Auswirkungen des Gesetzes sind bis heute spürbar, und es ist für die Betroffenen nach wie vor äußerst schwierig, angemessene Entschädigung und Anerkennung zu erhalten. Prof. Dr. Udo Benzenhöfer vom Senckenbergischen Institut für Geschichte der Medizin an der Universität Frankfurt analysierte die Entstehungsgeschichte dieses Unrechtsgesetzes und kommt zu dem starken Argument, dass es an der Zeit sei, das Gesetz endlich für nichtig zu erklären. Dieser Aufruf fand vor allem Unterstützung beim „Bund der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten“, der sich vehement für die Anerkennung der Opfer und die Aufhebung dieses schrecklichen Gesetzes einsetzt.

Die Debatte um die Aufhebung des GzVeN zeigt die andauernde Notwendigkeit, sich mit der dunklen Vergangenheit auseinanderzusetzen und die Rechte und Würde der Opfer zu respektieren. Es ist eine Erinnerung daran, dass das Unrecht der Vergangenheit nicht vergessen werden darf und dass die Gesellschaft gemeinsam daran arbeiten muss, solche Ungerechtigkeiten nie wieder zuzulassen.