Die Opposition gegen die NS-Euthanasie
von Rolf Allerdissen (Leserdauer: ca. 5:00 Minuten)
Insbesondere gegen die „Aktion T4“ protestierten Eltern der Betroffenen, aber auch einige Heimleiter und Mitarbeiter der Heime, in denen die Opfer lebten.
Protest der Katholiken
Von katholischer Seite protestierten der quasi amtsenthobene Bischof der Diözese Rottenburg Joannes Baptista Sproll, der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, der Bischof von Berlin, Konrad Graf von Preysing, der Dompropst von Berlin, Bernhard Lichtenberg, der Kapitularvikar von Paderborn, Weihbischof Augustinus Philipp Baumann und der Bischof von Limburg, Antonius Hilfrich.
Von Galen wird als „Löwe von Münster“ populär. Katholiken schreiben seine Predigten ab, drucken und verbreiten sie. Gegen den Bischof von Münster gehen die Nationalsozialisten nicht vor. Sie wollten das katholische Westfalen während des Krieges nicht gegen sich aufbringen. Er erfährt vom sogenannten Euthanasie-Programm als bereits 100.000 behinderte Menschen vergast worden sind. Von Galen erstattet Anzeige wegen Mordes.
„[…] Hast du, habe ich nur so lange das Recht zu leben, so lange wir produktiv sind, so lange wir von anderen als produktiv anerkannt werden? Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, dass man den ‚unproduktiven‘ Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden!“ […]
„[…] Nie, unter keinen Umständen darf der Mensch außerhalb des Krieges und der gerechten Notwehr einen Unschuldigen töten.“ […]
„[…] Wenn man die unproduktiven Mitmenschen gewaltsam beseitigen darf, dann wehe unseren braven Soldaten, die als Schwerkriegsverletzte, als Krüppel, als Invaliden in die Heimat zurückkehren.“ […] Bischof Graf von Galen in St. Lamberti in Münster am 3. August 1941 in seiner wohl bekanntesten Predigt
Der Protest der Lutheraner
Von evangelischer Seite protestierten u.a. Paul Gerhard Braune und Friedrich von Bodelschwingh.
Am bekanntesten ist sicher die Denkschrift des Pfarrers und Leiters der Hoffnungstaler Anstalten in Lobetal bei Berlin, Paul Gerhard Braune (1887–1954) vom Juli 1940. Darin hatte Braune alle vorhandenen Informationen gesammelt und diesen den staatlichen Stellen übergeben. In einem an Hitler gerichteten Memorandum führt er zahlreiche Belege für die Planmäßigkeit der Mordaktion an. Braune weigert sich, ihm anvertraute Kranke der Hoffnungstaler Anstalten auszuliefern. Im August 1940 wurde Braune von der Gestapo verhaftet. Unerwartet wird dieser nach drei Monaten aus der Haft entlassen und kann das Kriegsende überleben. Auch nach seiner Haftentlassung Ende Oktober 1940 setzte er heimlich seinen Kampf gegen das Morden fort.
Eine Tötung von kranken und behinderten Menschen lehnte von Bodelschwingh erst seit 1939 aus christlicher Überzeugung rundweg ab. Seit Mai 1940 gelangen ihm zusammen mit Pastor Paul Braune einige Erfolge gegen die Aktion T4. Damit rettete er sicherlich Menschen mit Behinderung das Leben. Aus seiner eigenen Anstalt wurden am 21. September 1940 sieben jüdische Patienten und Patientinnen auf Anordnung des Reichsinnenministeriums zunächst in die Landesheil- und Pflegeanstalt Wunstorf verlegt. Von dort wurden sie in die Tötungsanstalt Brandenburg/Havel gebracht und mit Gas umgebracht. Noch im August 1940 hatte Friedrich von Bodelschwingh einen weiteren Vorstoß gemacht, indem er an Ministerialrat Fritz Ruppert vom Reichsinnenministerium schrieb: „Sicher wäre es das beste, wenn die ganze Maßnahme sofort und endgültig eingestellt würde. Kann man sich dazu nicht entschließen, so muß ein geordnetes Verfahren festgelegt werden.“ Am 6. Januar 1941 versuchte er erneut, in einem Brief an Hermann Göring gegen die „Ausmerzung lebensunwerten Lebens“ zu protestieren, erhielt aber eine abschlägige Antwort. Die Meldebögen des Reichsministeriums des Innern, die im Juni 1940 in Bethel eintrafen, wurden nie ausgefüllt. Dazu hatte von Bodelschwingh auch anderen Anstalten der Diakonie geraten. Aus Bethel wurden keine weiteren Patienten abtransportiert.
In der Hoffnung, die »Euthanasie« zu stoppen, setzte von Bodelschwingh auf das, was seinem Charakter und seiner politischen Auffassung am nächsten lag: Unermüdlich nahm er Kontakte und Gespräche mit Behörden, Parteifunktionären und führenden Medizinern auf, insbesondere mit Hitlers Begleitarzt Karl Brandt. Dieser sagte im Nürnberger Prozess aus, Bodelschwingh sei die einzige seriöse Warnstimme gewesen, die ihm persönlich begegnet sei:
When I talked to Pastor Bodelschwingh, the only serious warning voice I ever met personally, it seemed at first as if our thoughts were far apart, but the longer we talked and the more we came into the open, the closer and the greater became our mutual understanding. At that time we weren’t concerned with words. It was a struggle and a search far beyond the human scope and sphere. When the old Pastor Bodelschwingh after many hours left me and we shook hands, he said as his last word, “that was the hardest struggle of my life.” To him as well as to me that struggle remained, and it remained a problem too.
Widerstand von der Justiz
Als einziger deutscher Richter prangerte Lothar Kreyssig aus Brandenburg an der Havel die Euthanasiemorde an. Als Vormundschaftsrichter hatte er bemerkt, dass sich nach einer Verlegung Nachrichten über den Tod seiner behinderten Mündel häuften. Im Juli 1940 meldete er seinen Verdacht, dass die Kranken massenhaft ermordet würden, dem Reichsjustizminister Franz Gürtner. Nachdem ihm mitgeteilt worden war, dass die Mord-Aktion in Verantwortung der Kanzlei des Führers ausgeführt werde, erstattete Kreyssig gegen Reichsleiter Philipp Bouhler Anzeige wegen Mordes. Im August 1940 suchte Kreyssig die Landesanstalt Görden, die ihm als Vormundschaftrichter unterstand, auf und untersagte die Verlegung aller unter seiner vormundschaftlichen Obhut stehenden Patienten. Er sprach ein striktes Verlegungsverbot von Anstaltsinsassen aus. Er wusste nicht, dass in dieser Anstalt bereits am 18.1.1940 die ersten Probemorde stattfanden, um die Durchführbarkeit und den technischen Ablauf der Tötung mit Kohlenmonoxyd zu testen.
Kreyssig, der damit gerechnet hatte, sofort festgenommen zu werden, wurde lediglich gemäß § 71 des Deutschen Beamtengesetzes vom 26. Januar 1937 (DBG) von Hitler als Beamter in den Ruhestand versetzen, weil dieser „nicht mehr die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für den nationalsozialistischen Staat eintreten wird“. So wurde Kreyssig auf diese Art aus dem Richteramt entfernt. Lothar Kreyssig war damals 43 Jahre alt.
Ich muss also annehmen, dass geisteskranke und geistesschwache Insassen von Heil- und Pflegeanstalten unter mir nicht näher bekannten Gesichtspunkten ausgewählt, in eine andere Anstalt verbracht und dort wider Gesetz und Recht und unter Vortäuschung eines natürlichen Endes vom Leben zum Tode gebracht werden. […] Die Frage nach dem Sinn solchen Lebens rührt an die tiefsten Daseinsfragen überhaupt. Sie führt unmittelbar auf die Frage nach Gott. Die Stellung zu ihr ist daher vom Glauben wesentlich bestimmt. Vom christlichen Glauben her ist die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ ein schwerer Gewissensanstoß. Leben ist ein Geheimnis Gottes. […] Die Meinung, Menschenleben beenden zu dürfen, weil die beschränkte Vernunft es nicht oder nicht mehr als sinnvoll begreift, ist daher Anmaßung und Empörung gegen Gott
Auszug aus dem Schreiben von Kreyssig vom 10. Juli 1940 an den Reichsjustizminister Franz Gürtner
Bürgerlicher und oppositioneller Protest in der Ostmark des Deutschen Reiches
Trotz Geheimhaltung ließen sich die Verbrechen auch in dem Deutschen Reich angeschlossenen Österreich nicht dauerhaft vor der Öffentlichkeit verbergen. Das Bekanntwerden der Krankenmorde verstärkte bei den Betroffenen – den Anstaltsinsassinnen, den Anstaltsinsassen und ihren Angehörigen – die Bereitschaft zum Widerstand, wobei sie kaum mit Unterstützung seitens des Ärzte- und Pflegepersonals rechnen konnten.
Bereits auf die ersten Transporte vom Steinhof reagierten Angehörige mit Demonstrationen vor der Anstalt in Wien, auf die die Behörden mit dem Einsatz von Polizei und SS reagierten. Ein Flugblatt der illegalen KPÖ Graz verurteilte den Abtransport und die Ermordung der Steinhof-PatientInnen. Auch die Alliierten erhielten Kenntnis davon: Die Royal Air Force warf im September 1941 Flugblätter über dem Deutschen Reich ab, in denen über die mörderische Tätigkeit des Dr. Jekelius am Steinhof berichtet wurde.
Die Krankenschwester Anna Wödl, Mutter eines behinderten Sohnes in der Anstalt Gugging, kämpfte entschlossen, aber erfolglos um das Leben ihres Kindes. Sie drang bis in die Reichskanzlei und ins Reichsinnenministerium vor und motivierte zahlreiche andere Angehörige zu Protestschreiben nach Berlin, wo tatsächlich „Wäschekörbe voll Post“ aus Wien eintrafen. Wilhelm Roggenthien rettete seine von Hamburg nach Wien-Steinhof verlegte Freundin Wally Hartung vor dem sicheren Hungertod, indem er sich als ihr Verwandter ausgab und nach einigem Tauziehen schließlich ihre Entlassung erreichte.
Nach Ansicht des Historikers Götz Aly wurden der Bruch der Geheimhaltung und die Beunruhigung der Bevölkerung mit Besorgnis registriert, zumal die Ausweitung des Krieges unmittelbar bevorstand.
Am 24. August 1941 wurde der fernmündlich von Hitler angewiesene »Euthanasie-Stopp« verfügt.