Aktuelle Debatte

Die heutige Debatte wird kaum mehr unter dem Begriff Euthanasie geführt. Die Verbrechen in der NS-Zeit beeinflussen jedoch – insbesondere in Deutschland – bis heute die Diskussion. Menschen plädieren oft deshalb für aktive Sterbehilfe, weil sie große Angst vor Schmerzen, Hilflosigkeit und quälender medizinischer Überversorgung am Ende ihres Lebens hätten. So wird gefordert, die wirksamste medizinische Hilfe in Form einer guten Schmerztherapie und Palliativmedizin besser zu erforschen. Auch wird eine Lockerung der Gesetzgebung zur Präimplantationsdiagnostik (PID), embryonalen Stammzellforschung und eine missbräuchliche aktive Sterbehilfe befürchtet. Dabei spielen oft auch religiöse Argumente eine Rolle.[19]

Präimplantationsdiagnostik

In Deutschland darf seit dem 1990 vom Deutschen Bundestag beschlossenen Embryonenschutzgesetz an Embryonen nicht geforscht werden. Als Beginn des schutzwürdigen menschlichen Lebens wurde die befruchtete Eizelle festgelegt. Manche fordern, dass in Deutschland die bislang verbotene Präimplantationsdiagnostik erlaubt werden soll. Die zentrale Frage ist, ob nach einer künstlichen Befruchtung die Untersuchung eines Embryos, bevor er in den Körper einer Frau eingepflanzt wird, zur Untersuchung auf einen genetischen Schaden hin legitim ist.

Die Befürworter dieses Verfahrens fordern die Anwendung in eng begrenzten Fällen, nämlich bei Paaren, bei denen mit schweren Erbschäden gerechnet werden muss. Sie argumentieren mit dem Einwurf, man könne PID nicht verbieten, da unter diesen Bedingungen der Schwangerschaftsabbruch straffrei sei.

Stammzellenforschung

Der Deutsche Bundestag hat am 26. April 2003 dem Import von menschlichen embryonalen Stammzellen zugestimmt. Stammzellen sind Zellen, die sich durch Zellteilung selbst erneuern und in einzelne oder mehrere Zelltypen ausreifen können (Differenzierung). Sie können sich vor allem für Gewebeersatz eignen. Dabei wird zwischen pluripotenten und totipotenten Stammzellen unterschieden. Pluripotente Stammzellen besitzen die Fähigkeit, sich zu Zellen unterschiedlicher Spezialisierung zu entwickeln, jedoch nicht zu einem Individuum.

Totipotente (lateinisch, wörtlich „zu allem fähige“) Stammzellen sind Zellen, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermögen. Nach ihrer Herkunft unterscheidet man

  • embryonale Stammzellen aus Embryonen, die durch in-vitro Fertilisation (IVF) entstanden sind,
  • durch Zellkerntransfer erzeugte embryonale Stammzellen,
  • embryonale Keimzellen (EG-Zellen) aus Schwangerschaftsabbrüchen,
  • neonatale Stammzellen aus Nabelschnurblut,
  • adulte oder somatische Stammzellen.

Mit den derzeit angewandten Methoden hat die Gewinnung von embryonalen Stammzellen die Zerstörung der Blastozyste zur Folge.

Eine weitere biomedizinische, aber äußerst umstrittene Technik betrifft das sogenannte Klonen.

Die Übertragung eines diploiden (vollständiger Chromosomensatz) Zellkerns in eine entkernte, unbefruchtete Eizelle ermöglicht auch bei Säugern eine ungeschlechtliche Vermehrung:

  • reproduktives Klonen: der heranwachsende Embryo wird in die Gebärmutter einer Leihmutter eingepflanzt und ausgetragen,
  • therapeutisches Klonen: der Blastozyste werden nach etwa 4 Tagen embryonale Stammzellen entnommen, um Zellen oder Gewebe zu entwickeln.

Das „Stammzellengesetz“ bestimmt, dass auch in Zukunft keine menschlichen Embryonen zum Zwecke der Forschung getötet werden dürfen. Der Import von Stammzellen, die vor dem 1. Januar 2002 entwickelt sein müssen, ist dann erlaubt, wenn der Nachweis „hochrangiger Forschungsziele für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn im Rahmen der Grundlagenforschung“ erbracht ist.

Die neuere politische Einschätzung – 2006

Reichstagsgebäude vom Westen – von Jörg Braukmann – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0

Ächtung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses ./. Nichtigkeitserklärung des Erbgesundheitsgesetzes

Auszug – Initiativantrag der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion in 2006 im Deutschen Bundestag

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellte mit der BT-Drucksache 16/3811 am 13. Dezember 2006 fest, dass mit dem „Erbgesundheitsgesetz“ ein Weg beschritten wurde, der mit grauenhafter Notwendigkeit zielgerichtet in das „Euthanasie“-Massenmordprogramm führte. Die hohe Todesrate bei den Zwangssterilisationen enthüllt überdeutlich den Charakter des „Erbgesundheitsgesetzes“ als Vorstufe des „Euthanasie“-Massenmords.

… Die Gültigkeit des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 (RGBl. I S. 529; geändert durch die Gesetze vom 26. Juni 1935, RGBl. I S. 773, und 4. Februar 1936, RGBl. I S. 119) endete mit dem Inkraft- treten des Grundgesetzes, soweit es dem Grundgesetz widersprach (Artikel 123 Abs. 1 GG). Die wenigen danach noch gültigen Vorschriften über Maßnahmen mit Einwilligung des Betroffenen wurden durch Artikel 8 Nr. 1 des Gesetzes vom 18. Juni 1974 (BGBl. I S. 1297) aufgehoben. Das Gesetz ist damit definitiv in keiner Weise mehr existent. Die Besorgnis mancher Opferverbände, das Ge- setz könne wieder in Kraft gesetzt werden, ist unbegründet….

Kompletter Antrag: BT-Drucksache 16/3811

Initiativantrag der Bündnis90/Die Grünen-Fraktion in 2006 im Deutschen Bundestag

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

… Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (Erbgesundheitsgesetz) war das erste Rassegesetz des NS-Staats. Auf Grundlage dieses Gesetzes wur- den hunderttausende Menschen zwangsweise sterilisiert. Das Erbgesundheits- gesetz bildete den Auftakt für die Verfolgung behinderter Menschen, die im Massenmord der so genannten Euthanasie gipfelte.

Das Leid der Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten wurde in Deutschland lange Zeit nicht angemessen gewürdigt. Die Betroffenen sehen das Unrecht des Erbgesundheitsgesetzes bis heute nicht als ausreichend aner- kannt an. Der Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V. ist mit einem Appell an die Fraktionen und Abgeordneten des Deutschen Bundestages herangetreten, „das durch und durch rassistische nationalsozialis- tische Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses endlich und nach über 70 Jahren aufzuheben und für nichtig zu erklären“. Dieser Appell hat breite gesellschaftliche Unterstützung gefunden. Zu den Unterstützern gehört auch der Nationale Ethikrat. …

Kompletter Antrag: BT-Drucksache 16/1171

Die Anträge wurden zur Beschlussempfehlung und Bericht an den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages weitergeleitet.

Empfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags.

Der Rechtsausschuss des Bundestages empfahl in der BT-Drucksache 16/5450 am 23. Mai 2007 dem Bundestag, dass dieser das Gesetz beschließen möge.

Der Rechtsausschuss des Bundestages empfahl in der BT-Drucksache 16/5450 am 23. Mai 2007 dem Bundestag, dass dieser das Gesetz nicht beschließen möge.

Komplette Empfehlung: BT-Drucksache 16/5450

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2007

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen

– Ächtung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933

– Nichtigkeitserklärung des Erbgesundheitsgesetzes

Tagesordnungspunkt 27

Dr. Jürgen Gebh (li.), CDU, am Mikrofon

Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Hintergrund der heutigen abschließenden Beratung der beiden Anträge der Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Bündnisses 90/ Die Grünen ist ein Anliegen des Bundes der Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten, das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 – das sogenannte Erbgesundheitsgesetz – „endlich und nach über siebzig Jahren aufzuheben und für nichtig zu erklären“. Das Erbgesundheitsgesetz war eines der ersten rassistischen Gesetze des NS-Staates. Es besteht seit längerer Zeit kein Zweifel mehr daran, dass es sich dabei um nationalsozialistisches Unrecht handelte.

Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat sich das Anliegen des Bundes der Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten zu eigen gemacht und in ihrem Antrag die Bundesregierung aufgefordert, „einen Vorschlag vorzulegen, wie der Gesetzgeber dem Anliegen des Bundes der ‚Euthanasie‘-Geschädigten und Zwangssterilisierten gerecht werden kann.“ Wir haben von Anfang an darauf hingewiesen, dass diese Forderung nach Aufhebung und Nichtigerklärung des Erbgesundheitsgesetzes aus Rechtsgründen nicht erfüllbar ist. Entsprechende Forderungen der Grünen sind bereits in mehreren parlamentarischen Beratungsverfahren zu der Thematik jeweils aus Rechtsgründen abgelehnt worden.

Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke erneut auf diese Rechtslage hingewiesen. In der mit Schreiben des Bundesministeriums für Gesundheit übermittelten Antwort vom 10. August 2006, Bundestagsdrucksache 16/2384, heißt es wörtlich: Nach Artikel 123 Abs. 1 GG gilt Recht aus der Zeit vor dem Zusammentritt des Deutschen Bundestages (7. September 1949) fort, soweit es dem Grundgesetz nicht widerspricht. Fortgelten können demnach nur vorkonstitutionelle Rechtsnormen, die an diesem Tag gültig waren (BVerfGE 4, 115, 138). Rechtsnormen, die im Widerspruch zum Grundgesetz stehen, sind bereits bei dessen Inkrafttreten am 24. Mai 1949 außer Kraft getreten. Die Gültigkeit des Erbgesundheitsgesetzes endete mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, soweit es dem Grundgesetz – insbesondere dem Artikel 2 Abs. 2 GG – widersprach. Die wenigen als Bundesrecht fortgeltenden Regelungen über Unfruchtbarmachung und Schwangerschaftsabbrüche mit Einwilligung bei Lebens- und Gesundheitsgefahr sind endgültig durch Art. 8 NR. 1 des Gesetzes vom 18. Juni 1974 (BGBI. l S. 1297) auf- gehoben worden. Das Erbgesundheitsgesetz existiert nicht mehr. Der Forderung, das Gesetz durch rück- wirkenden Akt für nichtig zu erklären, kann der Bundesgesetzgeber nicht entsprechen.Diese Rechtslage ist natürlich auch den Grünen be- kannt. Bezeichnend ist ja, dass die Forderung in den sieben Jahren, in denen die Grünen in der Bundesregierung vertreten waren, von dort auch nicht mehr erhoben worden ist. In Anbetracht dessen, dass sie nunmehr, wo die Grünen in der Opposition sind, erneut gestellt wird, kann ich Ihnen den Vorwurf des Populismus wirklich nicht ersparen. Das Unrecht und das Leid, das den Betroffenen mit dem Erbgesundheitsgesetz in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zugefügt worden ist, vertragen aber keine populistischen Spielchen. Deshalb haben wir mit unserem Antrag einen Weg beschritten, mit dem erneut zum Ausdruck gebracht wird, dass das Erbgesundheitsgesetz in seiner Ausgestaltung und Anwendung typisches nationalsozialistisches Unrecht war und deshalb keinen Eingang in die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland gefunden hat. Ich sage „erneut“, weil der Deutsche Bundestag bereits in mehreren Beschlüssen unzweideutig zum Ausdruck gebracht hat, dass er dieses Gesetz als mit rechtsstaatlichen Grundsätzen absolut unvereinbar ansieht. Allerdings war die Frage des formalen Fortbestandes nach dem Kriege in der Tat leider lange Zeit unklar, weil sie ausschließlich unter Berufung auf die Entstehungsgeschichte und die Gesetzgebung anderer Staaten diskutiert wurde. Die meisten Regelungen des Gesetzes waren bereits deshalb gegenstandslos, weil die vorherigen Erbgesundheitsgerichte nicht wieder errichtet wurden. Hinsichtlich der Frage der Fortgeltung hat sich erst im Laufe der Zeit ein Bewertungswandel vollzogen, der auf neuere Forschungsergebnisse und eine vertiefte Auseinandersetzung mit der tatsächlichen Durchführung dieses Gesetzes zurückzuführen war. Die Bundesregierung hat daher zu Recht darauf verwiesen, dass das Erbgesundheitsgesetz durch Art. 8 Nr. 1 des Strafrechtsreformgesetzes vom 18. Juni 1974, BGBI. I, S. 1297, auch förmlich außer Kraft gesetzt wurde, soweit es als Bundesrecht fortgalt, was im Hinblick auf einige Vorschriften, die keinen Unrechtsgehalt aufwiesen, zunächst der Fall war. Die Sterilisationsentscheidungen der damaligen Erbgesundheitsgerichte sind durch das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege und von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte vom 25. August 1998, BGBI. I, S. 2501, aufgehoben worden.

Der Bewertungswandel fand auch seinen Niederschlag in dem Beschluss des Deutschen Bundestages vom 26. Januar 1988, Bundestagsdrucksache 11/1714. In diesem Beschluss wurde bereits eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass der Deutsche Bundestag nicht nur die Durchführung von Zwangssterilisierungen in der Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch ihre gesetzliche Verankerung für nationalsozialistisches Unrecht hält. Wörtlich heißt es hierzu:

l. Der Deutsche Bundestag stellt fest, daß die in dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 vorgesehenen und auf der Grundlage dieses Gesetzes während der Zeit von 1933 bis 1945 durchgeführten Zwangssterilisierungen nationalsozialistisches Unrecht sind.

2. Der Deutsche Bundestag ächtet diese Maßnahmen, die ein Ausdruck der inhumanen nationalsozialistischen Auffassung vom „lebensunwerten Leben“ sind.

In dem Bericht zu der Beschlussempfehlung, Bundestagsdrucksache 11/1714, wird, worauf auch die Bundesregierung in ihrer oben erwähnten Antwort hingewiesen (D) hat, weiterhin ausdrücklich festgestellt, dass eine Fortgeltung des Erbgesundheitsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 123 Abs. 1 GG ausgeschlossen ist, weil dieses Gesetz mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren ist. Die Bewertung des Erbgesundheitsgesetzes als nationalsozialistisches Unrecht ist danach noch in mehreren weiteren Entscheidungen des Deutschen Bundestages bekräftigt worden, zuletzt in den Beratungen zu dem bereits erwähnten Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile im Jahre 1998.

Anträge der Grünen, die im Zusammenhang mit diesen parlamentarischen Beratungen jeweils eine förmliche Nichtigerklärung des sogenannten Erbgesundheitsgesetzes durch den Deutschen Bundestag forderten, fanden aus den bereits genannten rechtlichen Gründen nicht die Unterstützung der anderen Fraktionen. Der jetzt vorliegende Vorschlag der Koalition hat – und das ist besonders bemerkenswert – auch die Billigung des Bundes der Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten gefunden. In einem im Laufe der Beratungen des Rechtsausschusses durchgeführten erweiterten Berichtserstattergespräch haben die Vertreter dieser Organisation ausdrücklich den Lösungsansatz der Koalition begrüßt.

Dr. Carl-Christian Dressel (SPD), MdB, Bundestagsabgeordneter, Abgeordneter 

Dr. Carl-Christian Dressel (SPD): Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses war das erste Rassegesetz der Nationalsozialisten. Die Idee des Gesetzes war durch und durch rassistisch. Ich zitiere: Ziel der dem deutschen Volk artgemäßen Erb- und Rassenpflege ist: eine ausreichende Zahl Erbgesun- der, für das deutsche Volk rassisch wertvoller, kin- derreicher Familien zu allen Zeiten. Der Zuchtgedanke ist Kerngehalt des Rassegedankens. Die künftigen Rechtswahrer müssen sich über das Zuchtziel des deutschen Volkes klar sein. Ziel dieses Gesetzes war es, psychisch und physisch kranke Menschen zu sterilisieren. Später wurde die Unfruchtbarmachung auf sozial auffällige, nicht system- konforme und politisch andersdenkende Menschen ausgeweitet. Nach dem sogenannten Euthanasieerlass Hitlers ermordete man sie zunächst durch Gas, später durch Injektionen und gezieltes Verhungernlassen. Dieses Gesetz wollen wir mit dem vorliegenden Antrag von SPD und CDU/CSU ächten! Der von uns eingebrachte Antrag umfasst fünf Punkte, in denen sich diese Ächtung manifestiert: Erstens. Eine klare und zweifelsfreie Erklärung, dass das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses nie- mals Bestandteil der materiellen Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland war. Ich werde auf diesen Sachverhalt später noch genauer eingehen.Zweitens. Eine erneute Bekräftigung, dass die in dem Gesetz vorgesehenen und auf der Grundlage dieses Gesetzes durchgeführten Zwangssterilisierungen nationalsozialistisches Unrecht sind. Drittens. Diese Feststellung und die Ächtung soll laut unserem Antrag ausdrücklich sowohl auf das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 selbst, soweit dieses Zwangssterilisierungen rechtlich absichern sollte, als auch auf die gesetzlich vorgegebene Handlungsanweisung und die aufgrund dieser Handlungsanweisung durchgeführten Zwangssterilisationen erstreckt werden.Viertens. In unserem Antrag wird festgestellt, dass mit dem Erbgesundheitsgesetz ein Weg beschritten wurde, der in das Massenmordprogramm der Nationalsozialisten führte. Fünftens. Mit unserem Antrag bezeugen wir den Opfern der Zwangssterilisierung und ihren Angehörigen erneut Achtung und Mitgefühl in der Absicht, durch die nun erfolgte Ächtung des Erbgesundheitsgesetzes selbst jegliche Zweifel hinsichtlich einer umfassenden Genugtuung und Rehabilitierung der Betroffenen beseitigt zu haben. Ich bin fest davon überzeugt, dass unser Antrag in dieser Form dazu geeignet ist, ein wichtiges und positives Signal an die Opfer auszusenden. Zum Antrag der Grünen: Dieser Antrag, der den Vorschlag für eine Nichtigerklärung des Erbgesundheitsgesetzes zum Ziel hat, ist nach meiner Auffassung keinesfalls sachgerecht. Er verfolgt zweifellos ein richtiges Ziel, dass ich in seinem ideellen Sinne unbedingt unterstreichen möchte. Allerdings ist dieser Antrag tatsächlich aus verfassungsrechtlichen Gründen ungeeignet. Ich will dies begründen: Der Bundestag kann das sogenannte Erbgesundheitsgesetz nicht für nichtig erklären: Gemäß Art. 123 Abs. 1 GG gilt vorkonstitutionelles Recht nur fort, „soweit es dem Grundgesetze nicht widerspricht“. Die Teile des Erbgesundheitsgesetzes, welche die Zwangsmaßnahmen legalisierten, sind dadurch bereits mit Inkrafttreten des GG außer Kraft getreten. Ich will vor diesem Hintergrund ausdrücklich unterstreichen, dass „außer Kraft getreten“ bedeutet, dass aufgrund des Art. 123 GG dieses Gesetz seit Inkrafttreten des Grundgesetzes in seinen verfassungswidrigen Teilen nicht mehr existiert.

Daher nochmals die klare Botschaft an die Verbände und die durch sie vertretenen Opfer: Unter dem Grundgesetz kann das Erbgesundheitsgesetz keinesfalls mehr in Kraft gesetzt werden.

Unser Antrag ist in dieser Hinsicht unmissverständlich. Ich möchte die betreffende Stelle aus dem Antrag deswegen zitieren:

Die Gültigkeit des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 (RGBI. I S. 529; geändert durch die Gesetze vorn 26. Juni 1935, RGBI. l S. 773, und 4. Februar 1936, RGBI. I S. 119) endete mit Inkraftreten des Grundgesetzes, soweit es dem Grundgesetz widersprach (Artikel 123 Abs. 1 GG). Die wenigen danach noch gültigen Vorschriften über Maßnahmen mit Einwilligung des Betroffenen wurden durch Artikel 8 Nr. 1 des Gesetzes vom 18. Juni 1974 (BGBI. I S. 1297) aufgehoben. Das Gesetz ist damit definitiv in keiner Weise mehr existent. Die Besorgnis mancher Opferverbände, das Gesetz könne wieder in Kraft gesetzt werden, ist unbegründet.

Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses war seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes ohne Zweifel niemals Bestandteil der materiellen deutschen Rechtsordnung. Auf diese für die Opfer so wichtige Aussage wird in der Beschlussempfehlung deshalb noch einmal explizit hingewiesen.

Ich denke, wir sind uns über die Parteigrenzen hinweg darin einig, dass die Opfer ein Recht darauf haben, dass der Deutsche Bundestag eine eindeutige und einheitliche Position in dieser wichtigen Frage zum Ausdruck bringt.

Die Position des Bundes der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten zum Antrag der Koalition ist eindeutig. In seiner Stellungnahme wirbt der BEZ ausdrücklich für den Antrag von SPD und CDU/CSU.

Ich finde es daher sehr bedauerlich, dass die Abstimmung in der Ausschusssitzung nicht in diesem Sinne ausgefallen ist, da sich die PDS enthalten hat. Der Änderungsantrag der PDS war in Nr. 1 widersprüchlich, in Nr. 2 widersinnig. Ich rufe das Hohe Haus hiermit auf, einstimmig die Opfer zu achten und das verbrecherische Gesetz zu ächten.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP, MdB. Bundestagsabgeordnete, Abgeordnete

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Der Deutsche Bundestag hat in den Jahren 1988 und 1994 in seinen Entschließungen wiederholt an das Leid der Opfer erinnert und das Erbgesundheitsgesetz sowie die auf dessen Grundlage gefällten Urteile geächtet. In dieser Bewertung ist sich der Deutsche Bundestag auch heute einig. Im Rahmen dieser Debatte hat die FDP-Bundestagsfraktion betont, dass die Gültigkeit des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 in weiten Teilen durch Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949, insbesondere soweit es Art. 2 Abs. 2 GG widersprach, außer Kraft gesetzt und in den verbleibenden Teilen endgültig durch Art. 8 Nr. 1 des Gesetzes vom 18. Juni 1974 aufgehoben wurde. Es gibt keinen Grund zur Befürchtung, das Erbgesundheitsgesetz könnte wieder in Kraft gesetzt werden, und ein nicht existierendes Gesetz kann rechtssystematisch nicht für nichtig erklärt werden. Daran bestehen keine Zweifel. Die FDP-Bundestagfraktion unterstützt jedoch uneingeschränkt das Ansinnen, die Erinnerung an das unsägliche Unrecht und Leid, das Menschen infolge des NS-Erbgesundheitsgesetzes angetan wurde, wachzuhalten.

Rund 350 000 bis 360 000 Menschen wurden seit 1933 auf der Grundlage des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses zwangssterilisiert; 5 000 bis 6 000 Frauen und ungefähr 600 Männer starben nach diesen Eingriffen. Das Gesetz bildete zudem den Auftakt für die Verfolgung behinderter Menschen, die schließlich zu der sogenannten Euthanasie führte. Mit dem Gesetz vom 25. August 1998 wurden sämtliche eine Unfruchtbarmachung anordnenden und noch rechtskräftigen Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichte aufgehoben.

Entschädigungsansprüche hat es für die Opfer der Zwangssterilisation jedoch praktisch nicht gegeben. Diese waren davon abhängig, dass die Sterilisation ohne vorangegangenes Gerichtsverfahren erfolgte.

Es darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass nicht zuletzt die deutsche Gerichtsbarkeit mit der Einrichtung sogenannter Erbgesundheitsgerichte an der Rassenpolitik des Dritten Reiches einen entscheidenden Anteil hatte. Bis heute ist auch in Juristenkreisen das Vorhandensein einer solchen Erbgesundheitsgerichtsbarkeit relativ unbekannt. Ab 1980 konnten Geschädigte, das heißt zwangssterilisierte Personen, eine einmalige Entschädigungsleistung in Höhe von 5 000 DM beantragen. Bis zum Jahr 2000 erhielten rund 16 000 Betroffene diese Ausgleichszahlung. Ich habe bereits im Herbst letzten Jahres angemahnt, dass für parteipolitische Profilierungsversuche dieses Thema denkbar schlecht geeignet ist. Es ist jedoch ein legitimes und unterstützenswertes Interesse der Behinderten- und Opferverbände, die Erinnerung an das NS-Erbgesundheitsgesetz und das durch dieses Gesetz ausgeübte Unrecht wachzuhalten und eine aktive Auseinandersetzung der Gesellschaft und der Politik mit diesem Thema zu fordern.

Bis in die 3. Generation haben die NS-Opfer und ihre Angehörigen von Zwangssterilisation und Euthanasie noch heute unter der sogenannten nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik zu leiden.

Es gilt, diesen Opfern und ihren Angehörigen erneut Achtung und Mitgefühl zu bezeugen. Das Berichterstat- tergespräch mit Vertretern der Opferverbände hat mich in dieser Auffassung bestätigt.

Die FDP-Bundestagsfraktion wird dem Antrag der Koalitionsfraktionen deshalb zustimmen.

Jörn Wunderlich, Die LINKE., MdB. Bundestagsabgeordneter, Abgeordneter

Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Es geht heute um die Ächtung nationalsozialistischen Unrechts. Und es ist
an der Zeit. Endlich soll dem Ansinnen der Opferverbände Rechnung getragen werden, um auch den Opfern Rechtssicherheit zu gewährleisten. Es geht hier immer noch um nationalsozialistisches Unrecht, welches nun endlich ein wirkliches Ende finden soll. Bedauerlich ist, dass es in der Bundesrepublik Jahrzehnte gedauert hat, um das abschließend in Angriff zu nehmen. Dass dieses Gesetz als nationalsozialistisches Unrecht zu werten ist, dürfte angesichts der Begründung zu diesem Gesetz außer Frage stehen. Die menschenverachtenden Bemerkungen aus der Gesetzesbegründung möchte ich mir deshalb an dieser Stelle ersparen. Es handelt sich hierbei um das erste Rassegesetz der NS-Diktatur. Dem steht auch – wenn man die Biografien etlicher westdeutscher Juristen aus dieser Zeit berücksichtigt – nicht entgegen, dass das OLG Hamm 1952 dieses Gesetz als „mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar“ bezeichnete und 1957 festgestellt wurde, dass es sich nicht um ein typisches NS-Gesetz handele. Erst 1974 wurde das Gesetz, allerdings auch nur halbherzig, außer Kraft gesetzt. Es geht hier und heute um die endgültige Feststellung, dass dieses Gesetz in seiner Gänze aufgrund der Bestimmung des Art.23 Abs.1 Grundgesetz nie Bestandteil der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland geworden ist, da es menschenverachtend und mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar war. Soweit es in wenigen Teilen als Bundesrecht fortbestand, wurde es zwar außer Kraft gesetzt, ist gleichwohl aber noch Bestandteil der Rechtsordnung. Zwar geht die Bundesregierung davon aus, dass das Gesetz nicht mehr existent sei, in diesem Punkt irrt die Regierung jedoch! Das Gesetz, soweit es als Bundesgesetz fortgalt, ist nach wie vor Bestandteil der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Es ist lediglich außer Kraft gesetzt. Es ist seinerzeit erlassen und in Kraft gesetzt worden. 1974 wurde es außer Kraft gesetzt. Das Inkrafttreten betrifft jedoch nur die Anwendbarkeit der Vorschriften. Es handelt sich hier um einen besonderen Fall, in dem allein das Außerkraftsetzen der Vorschriften nicht ausreicht, da sie als früherer Bestandteil eines als solchen mit dem Grundgesetz unvereinbaren Gesetzes vollständig aus der Rechtsordnung entfernt werden müssen. Dies kann aber eindeutig nur mit deren Aufhebung geschehen. Dies entspricht der Forderung der Opferverbände. Von daher bedarf es der eindeutigen Beschlussfassung über die Aufhebung der besagten Normen. Dies entspricht nicht nur der Ansicht des heutigen, sondern wohl auch der eigentlichen Intention des damaligen Parlaments

Von daher ist die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, nach welchem das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933, soweit es eben als Bundesrecht fort galt und lediglich außer Kraft gesetzt worden ist, aufgehoben wird, um es endgültig aus der Rechtsordnung zu verbannen.

Die Aussage der Koalition, das Gesetz zu ächten, ist in jedem Falle unterstützenswert, wobei der Wortlaut insoweit missverständlich ist, dass in dem Wort „selbst“ aufgrund fehlender Interpunktion davor eine Einschränkung bezogen auf das Gesetz liegen könnte. Zur eindeutigen Klarstellung bedarf es weiterer Formulierungen im Antrag der Koalition, welche eindeutig den Unrechtsgehalt dieses gesamten verbrecherischen Gesetzes darstellen, welche die Ächtung des Gesetzes in Gänze klar und ohne Einschränkungen ausspricht. Von daher kann ich nur um Unterstützung unseres Antrags bitten, um den Opfern, die bis heute unter den Folgen leiden, endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und nicht noch länger hinzuwarten, bis keines der Opfer mehr seine Stimme erheben kann. Ich denke, hier ist es an der Zeit, ideologische Vorbehalte zurückzustellen und an die Opfer zu denken: sowohl hinsichtlich der umfassenden Ächtung des Gesetzes als auch zur Prüfung einer Aufhebung.

Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, Bundestagsabgeordneter, Abgeordneter, Mitglied Deutscher Bundestag, MdB, Rede, 66. Sitzung, Top 3, Thema: Sterbebegleitung, Redner 32. Rednerpult.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Opfer des sogenannten Erbgesundheitsgesetzes, die Opfer von Zwangssterilisierungen, die Opfer des Massenmordprogrammes der sogenannten Euthanasie und deren hinterbliebene Angehörige erfuhren auch nach Ende des Nationalsozialismus lange Zeit kaum Anerkennung und Würdigung. Erst sehr spät rückten diese Verbrechen und damit das Schicksal der Opfer des „Erbgesundheitsgesetzes“ ins gesellschaftliche Bewusstsein. Ab den 80er-Jahren sprach man von „vergessenen Opfern“. Das war gut gemeint, aber auch nicht ganz richtig. In Wahrheit handelte es sich um ausgegrenzte Opfer, die auch nach 1945 statt Anerkennung weiterhin Demütigung und Diskriminierung erlebten.Das Leid dieser Menschen wurde lange nicht als typisches NS-Unrecht anerkannt. Dabei war das „Erbgesundheitsgesetz“ das erste Rassegesetz des NS-Staates. Es wurde bereits am 14. Juli 1933 verabschiedet und trat im Januar 1934 in Kraft. Das Gesetz war durch und durch rassistisch und menschenverachtend.Auch von Entschädigung waren die Opfer des „Erbgesundheitsgesetzes“ lange ausgegrenzt. Es sei nochmals daran erinnert: Erst in den 80er-Jahren wurden Härteregelungen eingeführt, die auch Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten zugute kamen. In den Jahren 2004 und 2005 ist es gelungen, diese Härteleistungen erheblich auszubauen. So wurden beispielsweise die Leistungen für Personen, die Opfer von Zwangssterilisierungen wurden, fast verdoppelt. Dennoch können diese Härteleistungen kein wirklicher Ausgleich für das erlittene Unrecht sein. Sie sind eine Geste der Anerkennung und Unterstützung. Erst 1988 und 1994 hat der Deutsche Bundestag in Entschließungen das Unrecht ausdrücklich anerkannt, das „Erbgesundheitsgesetz“ und seine Anwendung geächtet. Mit dem „NS-Aufhebungsgesetz“ von 1998 wur- den die Entscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte pauschal aufgehoben. Die Betroffenen fühlen sich aber noch nicht ausreichend rehabilitiert: Der Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V. ist mit einem Appell an den Deutschen Bundestag herangetreten, das „Erbgesundheitsgesetz“ für nichtig zu erklären. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen hat dieses Anliegen aufgegriffen und in den Bundestag getragen. Wir haben uns für eine gesetzliche Klarstellung eingesetzt. Denn es braucht eine zweifelsfreie Klarstellung, dass das menschenverachtende „Erbgesundheitsgesetz“ zutiefst nationalsozialistisches Unrecht war, als solches diametral dem Grundgesetz widersprach und somit nie Teil der bundesdeutschen Rechtsordnung war.

Daraufhin haben die Koalitionsfraktionen ihrerseits einen Antrag eingebracht. Der Antrag der Koalition würdigt in Form einer Entschließung die Verbrechen als typisches NS-Unrecht und bekräftigt die Ächtung des „Erbgesundheitsgesetzes“. Das geht in die richtige Richtung, und daher kann dieser Entschließung selbstverständlich zugestimmt werden.

Uns geht es darum, klare Signale zu setzen, damit auch die letzten Zweifel der Betroffenen an ihrer Rehabilitierung und an der Anerkennung des ihnen zugefügten Unrechts ausgeräumt werden. Es ist von großer Bedeutung, dass dieses Anliegen vom ganzen Haus getragen wird. Wir unterstützen daher jeden Schritt, der uns diesem Ziel näherbringt.

Es geht darum, verfolgten, geschundenen und auch lange Jahre nach Ende des Nationalsozialismus weiter diskriminierten Menschen – soweit wir das vermögen – ihre Würde zurückzugeben. Das sind wir als Deutscher Bundestag den Opfern schuldig.

Abstimmung des Bundestages

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: 

Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 27 auf. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Jürgen Gehb, Norbert Geis, Ute Granold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Fritz Rudolf Körper, Joachim Stünker, Dr. Carl-Christian Dressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion der SPD mit dem Titel „Ächtung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5450, (C) den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/3811 anzunehmen.

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – 

Die Gegenstimmen! –

Die Enthaltungen! – 

Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen vom Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der Linken angenommen.“

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5450 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1171 mit dem Titel „Nichtigkeitserklärung des Erbgesundheitsgesetzes“.

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –

Die Gegenstimmen! –

Die Enthaltungen! –

Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung der Koalition, Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken sowie Enthaltung der FDP angenommen.

Der politische Wille – 2021

MEHR FORTSCHRITT WAGEN

BÜNDNIS FÜR FREIHEIT, FÜR GERECHTIGKEIT, FÜR NACHHALTIGKEIT

→ Erinnerungskultur (Seite 99)

Wir wollen die Opfer der „Euthanasiemorde“ und Zwangssterilisation offiziell als Opfer des Nationalsozialismus anerkennen.

Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der SPD, BündnisGrünen und FDP

Die aktuelle politische Debatte – 2022

Opfer von NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkennen – Aufarbeitung vorantreibenBT-Drucksache 20/2429

1. Lesung

Ohne Aussprache hat der Bundestag am Donnerstag, 8. September 2022, eine Reihe von Vorlagen zur weiteren Beratung in die Ausschüsse überwiesen, u.a.:

Opfer von NS-„Euthanasie“: „Opfer von NS-‚Euthanasie‘ und Zwangssterilisation als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkennen – Aufarbeitung vorantreiben“, lautet der Titel eines Antrags der Fraktion Die Linke (20/2429), der im Ausschuss für Kultur und Medien federführend beraten wird. In ihrem Antrag fordert Die Linke die Bundesregierung auf, den Opfern der aus politischen und volkswirtschaftlichen Gründen geplanten und vollendeten Ermordung während der NS-„Euthanasie“-Programme zwischen 1939 und 1945 in den fünf Mordzentren in Grafeneck (Baden-Württemberg), Brandenburg/Havel (Brandenburg), Bernburg (Sachsen-Anhalt), Hadamar (Hessen) und Sonnenstein (Sachsen) ein würdiges und angemessenes Gedenken zu bereiten, das auch Angehörige und Nachfahren einbezieht. Zudem müsste die Opfergruppe der Verfolgten und Ermordeten angemessen im nationalen Gedenkstättenkonzept des Bundes zu berücksichtigt werden. Darüber hinaus soll die gesellschaftspolitische Bildung über diese Opfergruppe und die damaligen Täter ausgebaut und ein digitaler Gedenk- und Informationsort mit der namentlichen Nennung der Opfer und deren Leidensgeschichte in kommentierter Weise geschaffen werden. Die Linke verweist darauf, dass die Mehrzahl der Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten nach 1945 keine angemessene Wiedergutmachung für das ihnen zugefügte Leid erhalten hätten. Ihre Traumatisierung und Stigmatisierung sowie ihre gesundheitlichen Schäden würden bis heute in der Öffentlichkeit zu wenig wahrgenommen.

Anhörung im Ausschuss für Kultur und Medien

Experten: NS-Opfer von „Euthanasie“ und Zwangs­sterilisationen anerkennen

Die Opfer der sogenannten „Euthanasie“-Morde und der Zwangssterilisationen während der nationalsozialistischen Diktatur zwischen 1933 und 1945 sollen als NS-Opfer anerkannt und ihre Schicksal verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerückt und in der historischen Aufarbeitung berücksichtigt werden. Dies war das einhellige Votum in einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien am Montag, 26. September 2022.

Der Ausschuss hatte den Historiker Prof. Dr. Wolfgang Benz, den Arzt und PsychiaterProf. Dr. Michael von CranachDr. Ute Hoffmann von der Gedenkstätte für die Opfer der NS-„Euthanasie“ Bernburg, Jan Erik Schulte von der Gedenkstätte Hadamar und Ulla Schmidt von der Bundesvereinigung Lebenshilfe geladen, um über einen entsprechenden Antrag der Linksfraktion (20/2429) zu beraten.

Benz: Erste planmäßig verfolgte Opfergruppe

Wolfgang Benz führte aus, dass behinderte Menschen zu den ersten planmäßig verfolgten Opfern des nationalsozialistischen Rassenwahns gehörten. Den sogenannten „Euthanasie“-Morden seien schätzungsweise 300.000 Menschen zum Opfer gefallen. Ausgehend vom 1933 erlassenen Gesetz „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ seien zudem bis zum Ende der NS-Diktatur etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert worden.

Unter den Opfern seien nicht nur geistig und körperliche Behinderte gewesen, sondern auch Fürsorgeempfänger, Langzeitarbeitslose, Alkoholiker und sogenannte „Asoziale“. Diese Menschen seien als „Ballastexistenzen“ angesehen worden, von denen das vermeintlich „rassisch reine“ deutsche Volk befreit werden sollte. 

Stellungnahme von Prof. Dr. Wolfgang Benz

Empfehlung: „Eugenik-Opfern“ statt „Euthanasie“

Benz und Michael von Cranach wiesen zudem darauf hin, dass sich die Nationalsozialisten auf eine in dieser Zeit schon lange weit verbreitete Sichtweise stützen konnten. Benz regte an, auf den euphemistischen Begriff „Euthanasie“ zu verzichten und besser von „Eugenik-Opfern“ zu sprechen. Der Begriff „Euthanasie“ stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie „schöner Tod“. Cranach führte aus, dass das Thema nach 1945 nicht nur in der Gesellschaft insgesamt, sondern auch in der Psychiatrie lange Zeit verschwiegen worden sei. Noch heute würde das Thema vor allem von „von unten“ aufgegriffen, von Nachfahren der Opfern, von „Stolperstein“-Initiativen und von Psychiatrietätigen.

Cranach warnte, dass die Aufbewahrungsfrist für Kranken- und Verwaltungsakten aus der NS-Zeit verkürzt worden sei. Es müsse dringend ein Verbot für die Vernichtung dieser Akten durchgesetzt werden, da ansonsten die weitere historische Erforschung dieser NS-Verbrechen kaum mehr möglich sei. Die Akten müssten digitalisiert und archiviert werden. Darüber hinaus müsse gewährleistet werden, dass die Krankenhäuser Fragen der Nachfahren nach dem Schicksal der Opfer qualifiziert beantworten können. Insgesamt müsse dem Thema auch in der historischen Bildung mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, beispielsweise durch eine Verankerung in den Lehrplänen für die Schulen.

Stellungnahme Prof. Dr. Michael v. Cranach

Experten: Gedenkstätten fehlen Mittel und Personal

Ute Hoffmann und Jan Erik Schulte verwiesen auf die zentrale Bedeutung von Gedenkstätten. Diese würden zum einen die historischen Geschehnisse sowie die Biografien von Opfern und Tätern erforschen. Zum anderen seien es die wichtigsten Einrichtungen bei der Beratung von Angehörigen und Nachfahren der Opfer sowie bei Bildungsangeboten für Schulen.

Allerdings verfügten die Gedenkstätten nicht über die ausreichende finanzielle und personelle Ausstattung, um die Nachfrage zu bedienen. Schulte forderte ein abgestimmtes Vorgehen von Bund und Ländern für eine bessere Unterstützung der Gedenkstätten.

Stellungnahme Dr. Ute Hoffmann

Schmidt: Verbrechen wirken bis in die Gegenwart

Die Vorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe, Ulla Schmidt, führte aus, dass es keinen einzigen historischen Grund gebe, die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisation nicht als Opfer des Nationalsozialismus anzuerkennen. Die Vernichtung von Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen sei von den Nationalsozialisten systematisch vorbereitet und durchgeführt wurden.

Diese Verbrechen wirkten bis in die Gegenwart, sagte Schmidt. So bestehe in der deutschen Gesellschaft bis heute ein defizitäres Denken bezüglich Menschen mit Behinderungen. Es müsse ein für allemal klargestellt werden, dass es kein „unwertes Leben“ gebe, sondern dass behinderte Menschen zur Bandbreite der menschlichen Vielfalt dazugehörten.

Stellungnahme Ulla Schmidt

Berichterstatter der Fraktionen

Die Berichterstatter aller Fraktionen im Ausschuss betonten, dass die Anerkennung des Leids und des Schicksals der Opfer der sogenannten „Euthanasie“ und von Zwangssterilisationen verstärkt in das öffentliche Bewusstsein gerückt werden müsse. Dies sei ein längst überfälliger Schritt sagte Marianne Schieder (SPD) und wies ebenso wie Erhard Grundl (Bündnis 90/Die Grünen) und Thomas Hacker (FDP) darauf hin, dass sich SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag darauf verständigt hätten, dies in dieser Legislaturperiode auf den Weg zu bringen.

Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) sprach von einem der „beschämendsten Kapitel“ in der deutschen Geschichte. Marc Jongen (AfD) sagte, die Anerkennung sei nicht nur „überfällig“, sondern komme zu spät, da von den Opfern so gut wie niemand mehr am Leben sei. Jan Korte (Die Linke) argumentierte, das Beispiel der „Euthanasie“ und der Zwangssterilisationen zeige, dass es zu den „großen Lebenslügen der Bundesrepublik gehöre, dass die NS-Vergangenheit erfolgreich aufgearbeitet worden sei. 

Antrag der Linksfraktion

In ihrem Antrag fordert die Linksfraktion die Bundesregierung auf, den Opfern der aus politischen und volkswirtschaftlichen Gründen geplanten und vollendeten Ermordung während der NS-“Euthanasie„-Programme zwischen 1939 und 1945 in den fünf Mordzentren in Grafeneck (Baden-Württemberg), Brandenburg/Havel (Brandenburg), Bernburg (Sachsen-Anhalt), Hadamar (Hessen) und Sonnenstein (Sachsen) ein würdiges und angemessenes Gedenken zu bereiten, das auch Angehörige und Nachfahren einbezieht. Zudem müsste die Opfergruppe der Verfolgten und Ermordeten angemessen im nationalen Gedenkstättenkonzept des Bundes zu berücksichtigt werden. Darüber hinaus soll die gesellschaftspolitische Bildung über diese Opfergruppe und die damaligen Täter ausgebaut und ein digitaler Gedenk- und Informationsort mit der namentlichen Nennung der Opfer und deren Leidensgeschichte in kommentierter Weise geschaffen werden.

Die Linke verweist darauf, dass die Mehrzahl der Zwangssterilisierten und “Euthanasie„-Geschädigten nach 1945 keine angemessene Wiedergutmachung für das ihnen zugefügte Leid erhalten hätten. Ihre Traumatisierung und Stigmatisierung sowie ihre gesundheitlichen Schäden würden bis heute in der Öffentlichkeit zu wenig wahrgenommen. (irs/aw/26.09.2022)

Zeit: Montag, 26. September 2022, 11 Uhr bis 13 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E.200

Protokoll der 14. Sitzung des Ausschuss für Kultur und Medien des Bundestages der 20. Legislaturperiode.