Die Lehre der vermeintlich guten Erbanlagen

Die Eugenik ist eine Theorie, die die Verbesserung der Erblichkeit der Menschheit durch die Kontrolle der Fortpflanzung anstrebt. Die Theorie wurde im späten 19. Jahrhundert entwickelt, als einige Wissenschaftler begannen, sich mit den Fragen der Geburtenkontrolle und der Erblichkeit des Menschen zu beschäftigen. Die Eugenik wird oft als eine Form der Rassenhygiene bezeichnet, aber tatsächlich ist sie viel breiter. Es hat auch zu einigen schrecklichen Konsequenzen geführt, wie zum Beispiel Sterilisierungsprogramme, die darauf abzielten, bestimmte Gruppen von Menschen zu eliminieren. Heutzutage werden die meisten Eugenik-Programme nicht mehr verwendet, aber das Rätsel der Eugenik bleibt. Was sind die ethischen Fragen, die sich daraus ergeben? Wie sollen wir mit der Idee der Eugenik umgehen? Kann sie in irgendeiner Weise als nützlich angesehen werden?

Die NS-Euthanasie und die Lehre der Eugenik, die von den Nazis verteidigt wurde, sind heute noch umstritten und werden auf der ganzen Welt als moralisch und ethisch verwerflich angesehen. Es gibt jedoch einige Wissenschaftler, die argumentieren, dass einige der Ziele des Programms, wie die Verbesserung der allgemeinen Gesundheit und das Vermeiden von Leid, durchaus ehrenwert sind.

Die Eugenik ist, keine „Erfindung“ der Nationalsozialisten. Beim gemeinsamen Blick in die weit zurückliegende Vergangenheit zeigt uns, dass wir schon in der Zeit vor Christi auf eine benachteiligende Behandlung von Menschen mit Behinderungen stoßen. Diese Ausgrenzung zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschheit.

In der Antike wurde die Tötung und Aussetzung von „Missgestalten“ stillschweigend geduldet. Bei den Griechen und Römern mit ihren Schönheitidealen hatten die „Krüppelhaften“ keinen Platz in der Gesellschaft. „Missgebildete“ Kinder wurden in den Brunnen geworfen oder den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen. Sogar die Philosophen jener Zeit propagierten die Eliminierung von Menschen mit Behinderungen.

Volksglaube und Wechselbälge

Der Teufel tauscht ein Baby gegen einen Wechselbalg aus. Anfang 15. Jahrhundert, Ausschnitt aus der Legende des heiligen Stephanus von Martino di Bartolomeo

Der Wechselbalg war im Aberglauben des europäischen Mittelalters ein Säugling (veraltet „Balg“), der einer Wöchnerin durch ein dämonisches Wesen im Austausch gegen ihr eigenes Kind mit der Absicht untergeschoben wurde, die Menschen zu belästigen und ihnen zu schaden.

In nichtchristlichen Glaubensvorstellungen wurde der Wechselbalg von Druden, Zwergen oder Elfen gezeugt und untergeschoben. Sie sorgten, so geben die Erzählungen als Motiv an, um ihre Arterhaltung, wofür sie ebenso wohlgestaltige Nachkommen wie die Menschen besitzen wollten. Der Wechselbalg im christlichen Volksglauben war ein Kind von Hexen oder sogar des Teufels. Der Teufel interessierte sich besonders für ungetaufte Kinder, weil ihnen das Himmelreich versagt blieb und er sie somit behalten konnte. Die verängstigte Mutter betrachtete wiederum die Taufe als den besten Schutz vor einem Wechselbalg.

Das älteste literarische Zeugnis für den Begriff „Wechselbalg“ findet sich in einer Psalmenübersetzung des Benediktiner-Mönchs Notker III. (um 950–1022), wo er fremediu chint mit althochdeutsch wihselinc umschreibt. Aus filii alieni macht Notker uuihselinga iudei und meint offensichtlich untergeschobene Kinder. Folglich war dies zu seiner Zeit eine bekannte Vorstellung. In den St. Pauler Bruchstücken verwendet Notker das Wort wehselkint.

Eike von Repgow (1180/90 bis nach 1233) erwähnt in seinem Rechtsbuch Sachsenspiegel einen altvil, der als geistig zurückgebliebene Person, vermutlich fälschlich als zweigeschlechtliche Person oder nach verschiedenen Herleitungen als Wechselbalg, erklärt wurde. Im Mittelhochdeutschen kommen die Schreibweisen wehselkint, wihselinc, wechseling, wehsel-balc und wehselkalp vor.

Ab dem 11. Jahrhundert wurden Geisteskrankheiten und körperliche Gebrechen vermehrt mit dem Wirken von Dämonen als Besessenheit erklärt. Hildegard von Bingen (1098–1179) führte in ihren magisch-naturmedizinischen Werken die Eigenschaften der belebten Natur regelmäßig auf Teufel, Druden oder Hexen zurück. Die Kirche übernahm heidnische Vorstellungen und ließ anstelle der alten Dämonen nun Teufel und Hexen als Gegenspieler der frommen Menschen auftreten. Die Vertauschung der Kinder durch Elfen wurde von Kirchenlehrern entsprechend umgedeutet.

Selbst Luther bezeichnete geistig schwer behinderte Kinder wie zu seiner Zeit üblich als Wechselbälger. In seiner Tischrede 5207 bezeichnete Luther sie als „massa carnis“, als „Fleischklumpen“, der „sine anima“ keine Seele innewohne und die vom Teufel geschaffen sei und an denen man das „homicidium“ (den Menschenmord) wagen müsse, damit des Teufels Werk beseitigt würde. Er habe dem Fürsten von Anhalt im Fall eines 12-jährigen Wechselbalgs geraten, diesen in einem Fluss zu ertränken, der Fürst wären seinem Rat aber nicht gefolgt.

Die Aufarbeitung in der Bundesrepublik

Nach 1945 tat man sich in der Bundesrepublik sehr schwer mit der Aufarbeitung dieser Verbrechen. Es gab politische Vorbehalte gegen eine pauschale Anerkennung gerade dieser Geschädigten als NS-Opfer. Zugleich konnten viele Täter ihre Karriere in den Bereichen Medizin, Psychiatrie, Rechtswesen, Verwaltung, Fürsorge und in den Wohlfahrtsverbänden in der alten Bundesrepublik nahtlos fortsetzen. Und es gab aufgrund mangelnder gesellschaftlicher Aufarbeitung eine Kontinuität rassistischen und menschenverachtenden Denkens, die sich insbesondere in den Heimen für Kinder und Jugendliche sowie für psychisch Kranke zeigte.

1959 hatte Generalstaatsanwalt Dr. Bauer erreicht, dass die Ermittlungen gegen die Täter von Auschwitz in Frankfurt am Main zusammengefasst wurden. Etwa zur selben Zeit begann er mit den Vorbereitungen für die Anklage der an der NS-»Euthanasie« beteiligten Schreibtischtäter – einschließlich der Spitzen der deutschen Justiz.

Mit der Absicht, die Auschwitz-Täter anzuklagen, machte der Jurist sich Feinde, jetzt wollte er Vertreter der eigenen Zunft anklagen und es erreichten ihn Morddrohungen. „Wenn ich mein Büro verlasse“, sagte er, „befinde ich mich im feindlichen Ausland“. Gegenüber dem Juristen Rudolf Wassermann (1925-2008) äußerte er: „In der Justiz lebe ich wie im Exil“.  Als die »Euthanasie«-Aktion zum Thema wurde, sprach man zunächst nur vom beteiligten Anstaltspersonal, während den übergeordneten Ärzten und Juristen ohne Weiteres schuldloser Verbotsirrtum eingeräumt wurde und von ideologischen Motiven nicht die Rede war. Die Argumentation schlug zugunsten der Ärzte aus, es wurde darauf verwiesen, dass die »Euthanasie«-Ärzte durch Aussonderung noch arbeitsfähiger Kranker sogar „die Gesamtzahl der zu Tötenden“ verringert hätten.

Recht verlangt von uns einen Kampf und ein gewisses Opfer.

Fritz Bauer

Im Auschwitz-Prozess gipfelte diese Exkulpations-Konstruktion in der Behauptung des Verteidigers Dr. Hans Laternser, die Mitwirkung an Selektionen habe der Lebensrettung gedient. Bei solchem Geschichtsverständnis konnte nur ein enger politischer Führungskreis, nämlich Hitler und die prominenten Initiatoren der verbrecherischen Aktionen, als Täter gelten, während alle übrigen lediglich der Beihilfe beschuldigt wurden. Umso erstaunlicher muss es danach erscheinen, dass Bauer sich auch noch den Verfahrenskomplex der NS-»Euthanasie«-Verbrechen aufbürdete. Ihm ist zu verdanken, dass es überhaupt zu neuen Ermittlungen wegen der Krankenmorde kam.

Bauers Ermittlungen

Juristen mit hoher Qualifikation und langjähriger Berufserfahrung stellten sich in den Dienst der Mordaktion. Aus der Sicht Fritz Bauers bestand die Funktion der Berliner Tagung in der Scheinlegalisierung der NS-„Euthanasie“. Im Mai 1960 übernahm der Generalstaatsanwalt kurzfristig die Ermittlungen gegen zunächst 29 Juristen und erwirkte, vier Tage vor dem Stichtag 8. Mai 1960, durch die beschleunigte Vernehmung von Professor Dr. Heyde die Unterbrechung der Verjährung.

Schon bald drohte dieses „wohl spektakulärste Verfahren der deutschen Justiz-Geschichte“ jedoch im Sande zu verlaufen. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart, die mit der Fortsetzung der Ermittlungen beauftragt worden war, wollte schon im Mai 1961 und erneut im August 1962 das Verfahren einstellen. Unter den damaligen Umständen, so befand sie, hätte ein Protest der Konferenzteilnehmer die Mordaktionen nicht behindern können. Im Juni 1963 holte Bauer das Verfahren nach Frankfurt am Main. Er ließ eingehende Ermittlungen anstellen, die sich jedoch hinzogen.

Widerspruch der deutschen Spitzenjustiz

Am 22. April 1965 ging beim Landgericht Limburg/Lahn der Antrag auf Eröffnung der Voruntersuchung mit einer 53-seitigen Anschuldigungsschrift ein. Gegen Staatssekretär a. D. Dr. Schlegelberger und 15, später 20 hohe Justizbeamte, die an der Berliner Juristen-Konferenz im „Haus der Flieger“ teilgenommen hatten, machte Bauer geltend: „Gemessen an den Anforderungen, die in den Strafverfahren der Nachkriegszeit an kleinste Gehilfen nationalsozialistischen Unrechts gestellt wurden, war von den versammelten Spitzen der deutschen Justiz zu erwarten, dass sie widersprachen, notfalls sogar erklärten, ihr Amt zur Verfügung zu stellen, um zu verhindern, dass sie durch ihr Stillschweigen zu Gehilfen tausendfachen Mordes wurden.“ Der Antrag blieb monatelang unbearbeitet beim Limburger Untersuchungsrichter liegen.

Bauer fand, außer im Stab seiner engen Mitarbeiter und bei wenigen Strafrechtlern, kein Gehör. Enttäuschend verliefen die Ermittlungen gegen die Spitzen der Justiz, die der Generalstaatsanwalt beschuldigte, der NS-»Euthanasie« auf der Konferenz im April 1941 schweigend zugestimmt zu haben. Der Beschluss der Strafkammer des Landgerichts Limburg zur Eröffnung der Voruntersuchung „gegen Schlegelberger u. a.“ erging erst am 26. Januar 1967, eindreiviertel Jahr nach Eingang von Bauers Anschuldigungsschrift und einen Monat, nachdem der Untersuchungsrichter die Eröffnung der Voruntersuchung gegen Dr. Schlegelberger, den am schwersten Beschuldigten, bereits abgelehnt hatte. Die Begründung lautete, dass die Tatvorwürfe im Nürnberger Juristenprozess schon abgeurteilt worden seien.

Einstellungsbeschluss

In der Folgezeit wurde der Kreis der Angeschuldigten immer kleiner, einige starben, andere Verfahren wurden wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. Vermutlich setzten unmittelbar nach Bauers Tod Überlegungen ein, wie man den ganzen Verfahrenskomplex unauffällig zu Ende bringen könnte. Nach über 11 Jahren, in denen sich die Zahl der Angeschuldigten von 30 auf vier reduziert hatte, endete die Voruntersuchung mit einem neunzeiligen Einstellungsbeschluss des Landgerichts Limburg am 27. Mai 1970, der mit keinem Wort auf die von Fritz Bauer erhobenen Beschuldigungen einging. Man hatte ihn ein Jahr zuvor tot in seiner Wohnung in Frankfurt am Main gefunden.

Damit war ein Tiefpunkt in der so genannten Bewältigung der Vergangenheit erreicht. (18) Ebenso sah es auch Generalsstaatsanwalt Dr. Hans Christoph Schaefer, dritter Amtsnachfolger Dr. Bauers, als er feststellte, dass die berüchtigte Berliner Konferenz vom April 1941 strafrechtlich nicht überzeugend bewältigt worden sei. (19) Als Helmut Kramer, Richter am Braunschweiger Oberlandesgericht, die lautlose Einstellung des Verfahrens 1984 in einer juristischen Fachzeitschrift aufdeckte, wurde er gleichwohl fast noch genauso angefeindet wie seinerzeit der hessische Generalstaatsanwalt. Die hessische Justiz wollte sich keine „Verschleierung“ nationalsozialistischer Gräueltaten nachsagen lassen. Allenfalls gab das Ministerium zu, dass bei Beendigung des Verfahrens dem hohen publizistischen Interesse im In- und Ausland nicht ausreichend Rechnung getragen worden sei.

Entschädigungsregelungen

1962 entschied der Bundesgerichtshof bezüglich der Massnahmen zu Zwangssterilisierungen die Urteile der Erbgesundheitsgerichte für rechtsgültig. Diese seien nur bei Verfahrensfehlern aufzuheben. Bei diesen Untersuchungen waren Mediziner aus dem Täterkomplex von vor 1945 beteiligt.

Bei einer allgemeinen Entschädigungsregelung wäre mit einer finanziellen Belastung zwischen 1 Milliarde DM und 1 1/4 Milliarde DM zu rechnen; hierbei würden bis zu 60 % der Entschädigung an Geisteskranke, Schwachsinnige und schwere Alkoholiker gezahlt werden. 

„Stellungnahme zur Frage einer Entschädigung von Personen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 sterilisiert worden sind“ durch den Wiedergutmachungsausschuß des Deutschen Bundestages vom 21. Januar 1965 

Entschädigungsforderungen für Zwangssterilisierte werden aufgrund von Expertenanhörungen vom Wiedergutmachungs­ausschuss 1961 abgelehnt. Von den 7 eingeladenen Gutachtern waren 3 NS-Täter: Eugeniker und „Rassenhygieniker“. Der geheim tagende Ausschuss kommt zu dem Schluss, dass das GzVeN nicht im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen gestanden habe.

Diese Entscheidungen reflektierten ein gesellschaftliches Klima in der für die Anerkennung als Verfolgte des Nationalsozialismus bis heute kein Platz war bzw. ist.